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AusstellungZeitRaum 5 Kaiser & VaterlandThemenwand Familienleben Die Kehlenbrink-Kinder

Die Kehlenbrink-Kinder

Foto | um 1907
Stadtarchiv Halle (Westf.)

Das Schicksal meinte es nicht gut mit Alwine Kehlenbrink und ihren Geschwistern, die um 1907 in Halle aufwuchsen. Vor der weihnachtlichen Kulisse glänzender Lichter und voller Schaufenster beginnt eine Geschichte von Verlust und Armut, wie sie von Charles Dickens hätte geschrieben sein können.

Doch tatsächlich ist es nicht mehr als eine Aktennotiz des damaligen Amtmanns Karl Wolf, die uns in diese berührende Haller Kindheit führt. Und wie eine Geschichte soll sie hier erzählt werden…

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Details und Hintergründe

Die Kehlenbrink-Kinder

Eine Haller Geschichte

Unter einer glanzvollen Fassade liegt ein gespaltenes Land – das deutsche Kaiserreich. Dem bürgerlichen Wohlstand stehen die ärmlichen Lebensverhältnisse der „kleinen Leute“ gegenüber…

Wir schreiben das Jahr 1907. Es ist kurz vor Weihnachten, und in den Schaufenstern der Haller Geschäfte liegen wunderbare Geschenke: zarte Porzellanpuppen, weiße Saffianschühchen und Marzipan.

Für die kleine Alwine Kehlenbrink hält das Kaiserreich keinen Glanz bereit. Ihre Mutter ist im Mai gestorben, ihr Vater Heinrich arbeitet als Tagelöhner in der Lumpensortieranstalt von Phillip Stern, für 2,85 Mark am Tag. Das reicht kaum, um die drei Kinder Karl, Alwine und Marie zu versorgen. An Weihnachtsgeschenke ist nicht zu denken. Das Jahr 1907 war schwer für Alwine. Was würde das neue Jahr 1908 ihr bringen?

Wir wüssten nichts über Alwine und ihre Geschwister, wenn nicht eine unscheinbare Akte im Haller Stadtarchiv[1] den „Fall Kehlenbrink“ bewahrt hätte – ein berührendes Streiflicht auf ein Kinderleben…

Kinder auf der Langen Straße in Halle/Westfalen im Winter 1909 vor dem Schwarzen Wirt Blickrichtung Innenstadt

Haller Kinder spielten auch im Winter draußen auf der Straße, zumal die Wohnungen oft eng waren. Foto: Baumann/Stadtarchiv Halle (Westfalen).

Ein paar Monate sind vergangen, und wir treffen unsere kleine Bekannte am 6. Oktober 1908 wieder. Sie ist jetzt acht Jahre alt. Alwine tritt gerade aus der Tür des Hauses Oldendorf Nr. 63 auf den späteren Gausekampweg. Hier ist zur Zeit ihre Bleibe. Die eigentlichen Mieter der Wohnung, Herr und Frau Möller, arbeiten auch beide in der Lumpenfabrik. Obwohl sie selbst Kinder haben und es ziemlich eng ist, ist eines ihrer Zimmer an sogenannte „Schlafgänger“ untervermietet — die „Schlafgänger“, das sind sie, Heinrich Kehlenbrink und seine Kinder: der elfjährige Karl, Alwine und die sechsjährige Marie. Doch sie haben das Zimmer nicht für sich allein. Da ist noch jemand…

Während Alwine aus unserem Blickfeld verschwindet, vielleicht mit der kleinen Schwester an der Hand, macht sich der Haller Amtmann Karl Wolf auf den Weg zum Haus Oldendorf Nr. 63 — dienstlich. Der verwitwete Arbeiter Kehlenbrink und seine drei Halbwaisen stehen offenbar schon längere Zeit in seinem Focus. Heute will der Amtmann vor Ort nachprüfen, ob für die Erziehung der Kinder hinreichend gesorgt wird. Nach seinem Hausbesuch protokolliert Wolf unter anderem:

„In dem Haushalte Möller befindet sich außerdem ein Rentenempfänger Schulze, dem die Obhut über die beiden Möller’schen und die drei Kehlenbrink’schen Kinder anvertraut worden ist. Schulze selbst neigt sehr dem Branntweingenusse zu. Als ich das Wohnzimmer betrat, stand die Schnapsflasche nebst Glas auf dem Tische.

Der Möller’schen Familie steht ein Schlafzimmer zu Gebote, während in der daran anschließenden Kammer Schulze sowie Kehlenbrink und dessen drei Kinder schlafen. Kehlenbrink steht für sich und seine drei Kinder nur ein Bett zur Verfügung. Kehlenbrink zahlt an Möller für Kost und Logis alle zwei Wochen nur 15 M. Bei meiner Anwesenheit gegen 7 Uhr abends traf ich die Kehlenbrink’schen Kinder nicht an. Kehlenbrink ist seit Mai 1907 verwitwet. Wolf, Amtmann, H.i.W., den 7.X.08“. [2]

Metallbett um 1910, Leihgabe von Ilka Windisch.

Metallbett um 1910. Leihgabe von Ilka Windisch.

Es ist zu anzunehmen, dass der Amtmann mit den Verhältnissen nicht einverstanden war und eine andere Unterbringung von Karl, Alwine und Marie verlangt hat. Er gab Kehlenbrink eine Frist bis Freitag, den 16. Oktober, und lud ihn für diesen Tag, 12 Uhr, in seinen Amtssitz vor. Bei dieser „Verhandlung“ berichtet der Vater, seine Kinder seien in verschiedenen Handwerkerfamilien untergekommen:

„Mein Sohn ist seit einigen Tagen bei dem Bäckermeister Schumacher in Halle und meine Tochter Alwine bei dem Steinhauer Schmidt, ebendaselbst, ohne jede Vergütung meinerseits untergebracht worden.“ Seine Tochter Marie werde in den nächsten Tagen in dem Haushalte des Maurers Kraak in Oldendorf (das zu dieser Zeit noch nicht zu Halle gehört), der in kinderloser Ehe lebe, Aufnahme finden. Er sei überzeugt, dass seine „sämtlichen Kinder nun gut untergebracht sind und in keiner Beziehung vernachlässigt werden.“ [3]

Der Amtmann lässt Kehlenbrinks Angaben am 2. November 1908 durch den Polizisten Zittier nachprüfen und der bestätigt am Tag darauf die Richtigkeit.

Was die Geschwister in ihren Pflegefamilien erlebten, ist nicht bekannt. Doch für die achtjährige Alwine gab es im großen Ziegelhaus der Familie Schmidt, gleich neben dem alten Friedhof, viel zu sehen und wohl auch viel zu tun: Da war der große Haushalt, dahinter die Marmorschleiferei und der lange Gemüsegarten mit Kartoffelacker.

Ein Jahr später waren die Verhältnisse offenbar — zumindest teilweise — auf den alten Stand zurückgefallen. So kam es am 6. November 1909 zu einer erneuten Vorladung von Vater Kehlenbrink. Dieser bat nun für die anderweitige Unterbringung seiner beiden Kinder (?) um eine Frist von drei Monaten. Er gab zu, dass die Erziehung gegenwärtig viel zu wünschen übrig lasse, es ihm aber „bei bestem Willen nicht möglich war, die Kinder in einer geeigneten Familie unterzubringen“.[4]

An dieser Stelle verlieren sich die Spuren der Kehlenbrink-Kinder…

Wir erfahren noch, dass Heinrich Kehlenbrink später gezwungen war, die Möllersche Wohnung zu verlassen, weil er zum Erreichen seines Zimmers das Schlafgemach der Eheleute Möller durchqueren musste. Das wurde aus sittlichen Gründen verboten. Wo er unterkam und was aus Karl, Alwine und Marie wurde ist unbekannt.

Im Adressverzeichnis aus dem Jahre 1914 taucht der Name Kehlenbrink nicht mehr auf…

 

Wolfgang Kosubek (Recherche & Text)

Katja Kosubek (Redaktion & Layout)

Dezember 2017

 

 

 

 

Amtmann Karl Wolf mit etwa 80 Jahren um 1944. Foto: Stadtarchiv Halle (Westf.)

[1] Stadtarchiv Halle (Westf.), Akte C 236 „Schlafgängerwesen“, Amtmann Wolf protokolliert seine Maßnahmen im Fall Kehlenbrink.

[2] Ebd., Amtmann Wolf protokolliert seinen Hausbesuch bei Familie Kehlenbrink am 6.10.1908.

[3] Ebd. Amtmann Wolf protokolliert seine Verhandlung mit Heinrich Kehlenbrink am 16.10.1908.

[4] Ebd., Amtmann Wolf protokolliert eine Verhandlung mit Heinrich Kehlenbrink am 6. November 1909.