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Erst am 9. Dezember war es soweit; im Laufe des Tages sollten 50 Offiziere, 1200 Mann und 600 Pferde des Infanterie Regiments Nr. 77 in Halle eintreffen. Neugierig machte sich Christian Frederking auf den Weg an die Lange Straße: „Ich stand nach der Schule bei Schmedtmann und sah dem Einzuge dieser 77er in unsere Stadt zu. Wie ganz anders hatte man sich einstmals den Einzug unserer Truppen gedacht. Der ganze Aufzug der 77er hatte etwas Zigeunerhaftes. […] Die Mannschaften schauten ernst, zum Teil mißmutig drein. Man hätte weinen mögen bei diesem Anblick! Was war aus unserm stolzen Heere geworden! Wofür hatte es 4 ½ Jahre gekämpft, gelitten u. geduldet! […] Ja, das war das Deutschland, in das die Frontkämpfer zurückkehrten, das neue, revolutionierte Deutschland. Man kann sich die Gefühle der Soldaten und Offiziere vorstellen!“[12]

Es war vorgesehen, einen Teil der Soldaten auf ihrem Rückmarsch auch privat unterzubringen. Doch manche nahmen die einstigen Helden nicht gern bei sich auf — sie waren augezehrt, sicher oft ungewaschen und krank: Die Soldaten brachten nicht nur die Spanische Grippe mit, sondern auch Läuse, die als Überträger des tödlichen Flecktyphus gefürchtet waren. [13] Die Läusegefahr war Stadtgespräch in Halle. Christian Frederking, der selbst zwei Heimkehrern Quartier gegeben hatte notierte: „Den folgenden Tag hörten wir, daß sich in der II. Pfarre nach dem Abzuge Läuse in den Betten gezeigt hätten. Die Apotheke [des Dr. Scholten] hatte 3 Offiziere im Quartier gehabt, und auch hier hatten sich, wie mir Frau Dr. Scholten erzählte, in dem Bette des einen Offiziers Läuse gefunden. Wir haben weder in dem Bett des Burschen noch des Offiziers etwas Verdächtiges entdeckt.“[14]

Ein weiteres Problem, das sich nicht mehr verschweigen ließ, war das Einschleppen von Geschlechtskrankheiten durch die Soldaten, trotz aller Bemühungen der Militärbehörden gegen eine Weiterverbreitung. Es stand „die Gefahr einer enormen Zunahme dieser Erkrankungen in der Zivilbevölkerung unmittelbar vor der Tür.“ Die Zeitung drängte Betroffene, sich bei den ärztlichen Beratungsstellen zu melden und im Übrigen „außereheliche Enthaltsamkeit“ zu üben.[15]

„Das katastrophale Ende unserer Macht und Herrlichkeit“

Noch einmal begleiten wir Rektor Frederking zum Abendschoppen bei Brune. Es ist der 20. November, Buß- und Bettag. Mittlerweile hatten sich verschiedene politische Parteien formiert und warben um Teilnahme an ihren Versammlungen in Halle. Die Herrenrunde bei Brune besprach wie gewohnt die politische Lage:

„Da kam Herr V. von der Redaktion herein und rief: Tirpitz [Großadmiral A. v. Tirpitz] soll gefangen genommen werden. Das ist auch recht so. Ich erwiderte: und diesen Mann hat man vor zwei Jahren noch gefeiert. Herr V. rief erregt aus: die Alldeutschen sind an allem Schuld. Sie sind auch so einer von dieser Sorte, Herr Rektor“[16] notierte dieser anschließend, offensichtlich tief getroffen.

Er und Frau Hermine mochten an diesem Abend nicht zu Bett gehen. Der befreundete Leutnant Rennings kam spät noch und nach einer Stunde stimmten alle darin überein, dass „der Zusammenbruch Deutschlands und das katastrophale Ende unserer Macht und Herrlichkeit“ bevorstehe und hatten schlimmste Befürchtungen.

Ein Demokrat ist Christian Frederking wohl nie geworden, wie so viele, die in den kommenden Jahren die Geschicke der hoffnungsvollen jungen deutschen Republik bestimmen sollten.

So steuerte die Weimarer Republik als „Demokratie ohne Demokraten“ auf einen weiten schicksalhaften 9. November zu, dem Tag als 1923 ein Mann namens Hitler versuchte, durch einen Putsch die Republik zu stürzen. Aber das ist ein anderes Thema…

Wolfgang Kosubek und Katja Kosubek

mit Dank an Martin Wiegand für die

Recherche Haller Kreisblatt-Archiv