Hauptmenü öffnen
AusstellungZeitRaum 4 Erster Weltkrieg & Weimarer RepublikThemenwand Krieg! Christian Frederking

Christian Frederking

Foto | um 1940
Leihgabe des Stadtarchivs Halle (Westf.)

Als junger Lehrer von 21 Jahren trat Christian Frederking (1860-1945) seine erste Stelle in Halle an. Zeitweilig unterrichtete er in Bünde und kehrte 1898 nach Halle zurück: Ihn lockte die Leitung der kurz zuvor gegründeten Höheren Privatschule. Strammer Preuße durch und durch, regierte der neue Rektor nach den Regeln von Zucht und Ordnung. Es gelang ihm, die Schule zu einer hochgelobten Bildungsstätte zu entwickeln. Der Erste Weltkrieg und der Zusammenbruch des Kaiserreiches erschütterten Frederking tief.

Im Sommer 2018 wurde sein Kriegstagebuch entdeckt. Es ist ein seltenes Zeitdokument, das die Ereignisse in Halle während des Ersten Weltkriegs auf Augenhöhe zeigt. Wir haben das 560 Seiten starke Manuskript für Sie übersetzt. Lesen Sie hier die Haller „Kriegschronik“ von Christian Frederking Band I (1914-1916) und Band II (1917-1924) als PDF.

Unten finden Sie eine Leseprobe zum Kriegsbeginn 1914 sowie

… alle Details und Hintergründe

Die Exponat-Seite – das Herzstück des Museums!

Jedes Exponat hat eine eigene Seite.
Kehren Sie zurück zu
, , und finden Sie weitere interessante Ausstellungsstücke.

Die Ausstellung wächst ständig.

Stöbern Sie mit Hilfe des Zeitstrahls weiter durch die Sammlung oder entdecken Sie weiter unten Informationen, die einen Bezug zum gewählten Exponat haben.

Zeitstrahl

Öffnen

Details und Hintergründe

Kriegstagebuch von Christian Frederking

Leseprobe

Kreisarchiv Gütersloh, „Sammlung Tappe, C 01/05“, Nr. 078 : Chronik Frederking

Tagelang hatten die Bürger die weltpolitischen Ereignisse atemlos verfolgt. Zuletzt hatte Rußland ein Ultimatum des Deutschen Kaisers verstreichen lassen… Nun war der angedrohte Krieg unabwendbar – oder nicht? Aufs Höchste angespannt erwartete man in Halle die Kriegerklärung des Deutschen Kaisers.

Kaiser Wilhelm II. nach einem Gemälde von Robert Hahn (gemeinfrei)

Kaiser Wilhelm II. nach einem Gemälde von Robert Hahn

Mobilmachung

am 1. August 1914

Auch im Land wartet man in fieberhafter Ungeduld in den Nachmittagsstunden. Da endlich erscheint an der Post der weiße Zettel mit der Aufschrift: Telegramm. Berlin, 1. August, „um 5 Uhr 15 Min.: der Kaiser hat soeben die Mobilmachung der gesamten deutschen Streitkräfte angeordnet.“ Es ist ein besonders Formular, das anscheinend zu dieser Meldung bereit lag.

Es war gegen 6 Uhr nachmittags, als der Polizeisergeant Höfener mit der Nachricht an mir vorbei fuhr: „Es ist mobil!“ Da ich am Berliner Tor zu tun hatte, ging ich durch die Straßen der Stadt. Wie ein Lauffeuer hatte sich die Nachricht verbreitet, überall wußte man es schon, denn vor allen Türen und auf den Straßen standen die Menschen zu zweien, dreien oder in Gruppen zusammen. Radfahrer fuhren in Erregung zwischen den Menschen durch um es auch denen noch zuzurufen, die es noch nicht wissen sollten. Vor der Post und der Redaktion des Haller Kreisblatts standen Männer und Frauen gedrängt, um noch etwas Neues zu erfahren. Die Gesichter aller waren ernst, tiefernst, denn jedermann wußte, was diese Mobilmachung zu bedeuten hatte, und der eine fragte den anderen: müssen Sie mit? Müssen Sie mit? Wer muß von Ihnen mit? Und dann überzählte man die Militärpflichtigen der eigenen näheren Verwandtschaft oder der weiteren Sippe und dachte an das Elend unddie Not, die dieser furchtbare Krieg über unser deutsches Vaterland bringen würde, und manches Mütterlein stand still weinend oder in sich gekehrt neben den andern, jetzt gerade daran denkend, wie sie den Abschied ihres einzigen oder ihrer zwei oder drei oder vier Söhne wohl überstehen und ob sie sie wohl wiedersehen würde. Dazwischen dröhnten die schweren, dumpfen Schläge der Stundenglocke, die von der nahen Kirche herüberschallten. […]

Pferdeaushebung

am 3. August 1914

In Halle ist der Montag ein großer Tag: es ist Pferdeaushebung. Früh um 7 Uhr beginnt der Anmarsch, und kurz darauf ist der ganze Marktplatz mit Pferden besetzt. Am Montag ist Aushebung aller seit der letzten Musterung zugekauften Pferde. Auf der Straße müssen sie vor den kritischen Augen des Kreistierarztes und des Hauptmanns Hessing von der Artillerie in Minden einen kurzen Trab laufen, nachdem das Gebiß, die Hufe und der ganze Bau einer kurzen, aber strengen Kritik unterzogen sind. Darauf beginnt die Abschätzung der Sachverständigen. Jeder der 3 Männer setzt einen Preis fest, die Summe wird durch 3 geteilt und auf den sich so ergebenden Durchschnittssatz dem bisherigen Besitzer eine Anweisung auf die Regierungskasse in Minden ausgestellt. Gegen diese Abschätzung gibt es keine Beschwerde. Das ist überhaupt das Großherzige an diesem Kriegszustande: der heilige Bürokratius ist völlig in die Ecke gedrängt, es gibt keine Beschwerden, keine Rückfragen, keine Wiedervorlagen und dergl; alles geht glatt und pünktlich vonstatten. Wenn einer 1000 M für ein Pferd erwartet hat und erhält bloß 900 M, so kann er wohl die Faust in der Tasche ballen, aber das ist auch alles. […]

Die beiden Sachverständigen und die Abschätzungskommission hatten prompt gearbeitet, und gegen 7 Uhr würde man fertig sein. Da reitet eine kurze Zeit vorher ein Depeschenbote per Rad auf den Hauptmann Hessing ein. Die Depesche aus Münster meldet, daß feindliche Flieger in der Richtung Münster-Bielefeld unterwegs seien. Das wäre so ein gefundenes Fressen für einen Flieger gewesen, durch ein paar Bomben für ein Gemetzel unter den dichtgedrängten Menschen und Tieren anzurichten. Der Hauptmann als der Höchstkommandierende bespricht sich mit dem Landrat und nun werden die Tiere vom Marktplatz in die baumbeschattete Wertherstraße und teils in Brunen Dreschhalle gebracht, wo sie den Blicken von oben entzogen sind. Nun laß die Flieger nur kommen. […]

184 Pferde von gestern und 130 von heute ziehen nun nach Hörste – Münster zu, um die Kanonen vor die Front in Feindesland zu bringen. Heute morgen haben sie den heimatlichen Stall verlassen, der sie geborgen und gehegt und gepflegt hat. Jetzt erfaßt sie die rauhe Kriegerhand. Gar manches von diesen schönen stolzen Tiere wird sich nach wenigen Wochen dort im Feindesland stöhnend auf dem Boden wälzen, ein Opfer des Krieges. Ich stehe lange vor der Post auf der Chaussee und schaue dem Zuge nach.

Sonderausstellung Haller Persönlichkeiten, Geschwister Graebe

Die Graebestraße um 1910 - ein Schauplatz der "Pferdeaushebung". Die gegenüberliegende Wertherstraße war damals eine dicht mit Bäumen bestandene Allee. Foto: Stadtarchiv Halle (Westf.)

Fliegerabwehr auf dem Kirchturm

am 3. August 1914

Herr Lehrer Gr. [Anm., wohl Grell], der gerade zur Stelle ist, erbietet sich, mit einigen unverzagten Männern den Kirchturm zu besetzen. Die bewaffneten Mannen rückten an, da tritt ihnen der Küster entgegen, der Kirche redlicher Hüter. Er bedeutet ihnen, daß gerade Abendmahlsfeier für die ausziehenden Krieger sei und daß er ihnen daher das Betreten der Kirche und das Besteigen des Turmes nicht erlauben könne. „Dann müssen wir den Kantor fragen“. Doch auch dieser wagt nicht den Bescheid zu geben. „Dann müssen wir den Pastor selber fragen. Herauf müssen wir, es mag gehen, wie es will.“

Der Küster geht nun zum Pastor Rathert, der die Genehmigung sofort erteilt. Um aber vorzubeugen unterbricht er die heilige Handlung, und verkündet den Andächtigen, daß feindliche Flieger erwartet würden, daß aber der Turm mit Schützen besetzt werde und daß sie nicht erschrecken sollten, wenn Schüsse fielen. Nachdem diese Schwierigkeiten überwunden, steigt nun die Abteilung die engen Stufen hinauf. Ach, wenn man doch erst oben wäre. Wer weiß, vielleicht fliegen sie jetzt gerade vorüber und entkommen ihnen. „Zum Kuckuck noch mal, doch schneller werden. Wer ist denn der erste? Das ist ja die reine Schneckenhatz.“ So hastet man nach oben und fällt dann gleich mit der Flinte in das Schallloch. „Gott sei dank, daß wir oben sind, durch können sie noch nicht sein. Ach, was kann man hier weit kucken. So, jetzt wollen wir uns mal auf die verschiedenen Himmelsgegenden verteilen…“. Nach längerer Zeit, als die Kirche längst vorüber, steigt man langsam, sachte und bedächtig, einer nach dem anderen, die steilen Stufen wieder hinab. […]

Minute auf Minute verrinnet, kein Surren des Fliegers beginnet. Wie weit man auch spähet und blicket […]

 

 

Die St. Johanniskirche um 1910. Der Kirchturm wurde 1914 besetzt, um feindliche Flieger abzuschießen. Foto: Stadtarchiv Halle (Westf.)

Abfangen feindlicher Automobile

Eine andere Nachricht traf noch an demselben Tage ein: “Französische Autos sind unterwegs, vom Rhein her (Richtung Holland-Belgien) kommend, die eine französische Kriegsanleihe nach Rußland bringen wollen. Die Autos sind anzuhalten. Es war gegen 9 Uhr abends. Da ertönte plötzlich das Feuersignal. Es wird von den anderen Hupen sofort aufgenommen und schauerlich tönt die Symphonie dieser Klänge durch die Stille der Nacht. Ich stürze die Treppe meines Hauses hinauf und schaue nach allen 4 Himmelsgegenden aus dem Fenster, aber nirgends ein Feuerschein. Ich eile nun auf die Straße und höre, daß die Feuerwehr alarmiert ist, um die goldbeladenen Autos abzufangen. Bei Lüttgert [Lange Straße/Ecke Wertherstraße] wird ein Leiterwagen quer über die Straße gefahren; am Berliner Tor [Lange Straße/Ecke Gartnischer Weg] versperrt ebenfalls ein schwerer Wagen den Weg. „Hier kommt keiner durch,“ ruft man triumphierend dem Kommerzienrat [Anm. wohl Kisker] zu. „Ja, aber ich erwarte zwei Offiziere mit dem Auto von Bielefeld.“ „ Ja, denn wollen wir die man durch lassen.“

Bei Kiskers Tabakschneiderei stand Herr [—]. Er sagte sich: die Seele der Autos sind Benzin und Reifen. Wenn man die Reifen durchschneidet ist das Auto ja gefangen. Diesen Gedanken fassen, seinen Säbel holen, ihn aus der Scheide ziehen und sich stoßbereit auf der Bordkante aufstellen, war das Werk eines Augenblicks. Lange wartet er, bis er das furchtbare Mordinstrument endlich still beiseite legt.

Alle Tore sind besetzt. Man wartet voller Erregung auf die Autos, doch lange Zeit vergebens. Die Klugschnacker, die alles besser wissen, fangen schon an, die brave Feuerwehr zu verulken. „Doch horch! Welch seltsamer Ton! Sind das nicht die Schwingungen, wie sie der Motor eines fernen Autos erzeugt? Fürwahr, er hat recht. Der hat doch feine Ohren! Jetzt höre ich es auch. Natürlich, das kann ja ein Tauber hören, sieh da, man sieht auch schon die Lichter bei Mußmann [Alleestraße/Ecke Postweg] um die Ecke biegen. Ha, das kommt von Münster über Versmold! Jetzt aufgepaßt! Wir verhalten uns ruhig, bis K. auf ein gegebenes Zeichen bläst, und dann springen wir zu.“ Das Auto nähert sich, die Fahrt etwas verlangsamend, dem Bahnübergang, die Hupe ertönt, man springt zu und – entdeckt Kreistierarzt Baumhöfener in dem Auto. Da Tierarzt Retsch schon eingezogen war, hatte er nach den Anstrengungen des Tages noch zu mehreren schwereren Fällen über Land müssen…

 

 

 

Das Eckhaus Lange Straße/Wertherstaße. Durch einen quergestellten Leiterwagen sollten hier im August 1914 feindliche Automobile aufgehalten werden. Foto: Haller ZeitRäume.