Schöne neue Chausseen führten von Halle in die Welt, alle befestigt und mit Bäumen gesäumt. Preußen „machte sich“. Bielefeld lag seit 1854 sogar an der Eisenbahnlinie Köln-Minden. Doch wie kam man dort hin?
Ab 1880 war das ganz einfach: Wilhelm Stukemeier aus Halle kutschierte die Leute mit seinem „Pferde-Omnibus“. Er war also eine Art Eisenbahnzubringer…
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Wilhelm Stukemeier war erst 20 Jahre alt, als er um 1871 nach Halle kam und hier mit seiner Arbeit als Fuhrmann began. Ab 1880 trabten seine Pferde dann nach einem genauen Fahrplan täglich über die Chaussee nach Bielefeld (Künsebeck – Steinhagen – Quelle) bis zum Bahnhof Brackwede und zurück — sechs Jahre lang. Jeder auf seiner Strecke kannte den jungen Fuhrunternehmer, den „Haller Willem“.
Eine Fahrt dauerte gute 1 ½ Stunden. Die Entfernung von etwa 17 Kilometern musste also flott gefahren werden. Willems Abfahrtszeiten standen regelmäßig im Haller Kreisblatt. Gegen 7 Uhr morgens ging es los. Im Winter war es zu dieser Zeit noch dunkel, und Willem entzündete die Laternen an seinem Fuhrwerk, sobald er die Pferde angespannt hatte.
Der Haller Willem bot also einen „Schienenersatzverkehr“ — so lange, bis auf seiner Strecke tatsächlich Schienen verlegt wurden und 1886 die erste schwergewichtige Dampflok schnaufte. Sie war nun der neue „Haller Willem“. Willem Stukemeiers Pferde-Omnibus wurde nicht mehr gebraucht. Etwa zur gleichen Zeit ereilte seine beiden Zugtiere nacheinander der „Rotz“, eine meist tödliche verlaufende Pferdekrankheit. Der Fuhrunternehmer musste sich neu orientieren.
Er war jetzt etwa 35 Jahre alt, noch jung genug, um etwas Neues zu beginnen — auch privat. Die Eisenbahn war gerade erst in Betrieb, als er mit Friederike Günner zunächst vor den Traualtar trat und bald darauf an die Wiege der drei gemeinsamen Kinder. Nun musste eine Familie ernährt werden.
In ihrem Haus, das verkehrsgünstig an der Langen Straße lag, eröffneten Willem und Friederike 1887 die „Gastwirtschaft Stukemeier“.[1] Vielleicht kam ihm seine Bekanntheit dabei zugute… Gemeinsam mit seiner Ehefrau stand er 16 Jahre lang hinter der Theke. Die beiden durften Bier, Wein und Kaffee ausschenken.
Im Jahr 1895 beantragte Willem die unbeschränkte Schank-Konzession für die Gaststätte, also die Genehmigung, Spirituosen − insbesondere Branntwein − ausschenken zu dürfen, mit dem Hinweis darauf, dass er „fast täglich von seinen Gästen um die Verabreichung angehalten“[2] werde.
Entscheidend für eine Genehmigung war, dass ein „Bedürfnis“ vorlag, also quasi eine Branntwein-Versorgungslücke. Dies war in Halle mit seiner hohen Kneipendichte nicht gegeben. Nun schaltete sich jedoch der Stadtvorsteher Eduard Kisker mit einer, aus heutiger Sicht, etwas kuriosen und amüsanten Empfehlung in das Verfahren ein: Die Bedürfnisfrage könne nicht bejaht werden, schrieb Kisker, aber „es ist nicht zu verkennen, dass [sich] der Antragsteller in einer wirklich peinlichen Lage befindet“, da er sich in unmittelbarer Nähe des städtischen Marktplatzes befinde und besonders an Markttagen, wenn die Gäste Branntwein verlangten, regelmäßig Unannehmlichkeiten habe. Bisher sei der Stukemeier standhaft geblieben, was ihm anzurechnen sei, „aber eines schönen Tages könnte er dem Bitten und Drängen nachgeben“ und dadurch straffällig werden. Darum sei dem Gesuch stattzugeben.
So bekam Wilhelm Stukemeier die gewünschte Schank-Konzession. Am Rande sei noch bemerkt, dass Kisker nicht nur Stadtvorsteher sondern auch Brennereibesitzer war…
Ein langes Leben hatte der Haller Willem nicht. Er starb im Sommer 1903, mit nur 52 Jahren, an einem Herzschlag.[3] Sein Haus, Lange Straße Nr. 30, steht noch immer und auch die Futterraufen seiner Pferde gibt es noch.
Die Eheleute Wilhelm und Friederike Stukemeier hatten drei Kinder: ihren Sohn Heinrich, dann Gustav, der nur wenige Monate lebte, und schließlich die kleine Emma, geboren am 6. September 1891. Sie war acht Jahre alt, als ihr Vater, der „Haller Willem“ 1903 starb.
Friederike Stukemeier führte nun einige Zeit allein und mit gutem Erfolg das Lokal und den kleinen Kolonialwarenladen, der dazugehörte.[4] Ihre kleine Tochter Emma wuchs mit der Gaststätte auf und lernte mit den Jahren alle anfallenden Aufgaben. Als 1941 per Formular festgestellt werden solle, seit wann sie im Betrieb tätig sei, war ihre Antwort „schon immer“.
Im Sommer 1906 beantragte die Witwe Friederike Stukemeier die Verlängerung bzw. Übertragung der Schank-Konzession:
„Da mein Mann vor 3 Jahren gestorben ist, so beabsichtige ich, mit dem Witwer und Händler August Prange zu Ascheloh, in den nächsten Wochen die Ehe einzugehen. […] Ergebenst Frau Wwe. Stukemeier“
Dem Antrag wurde stattgegeben. In der Genehmigung vom September 1907 heißt es unter anderem:
„Der Wirt August Prange hat in seinem Hause, Langestraße No. 30 hiesiger Markt, ein Schankzimmer zum gemütlichen Aufenthalte der Gäste in Größe von 28 Quadratmetern nach Vorschrift hergestellt. Auch sind die erforderlichen Pissoirs und Aborte vorhanden.“
Nun hieß das Lokal „Gaststätte Aug. Prange“. In den nächsten 35 Jahren gab es keine aktenkundigen Vorkommnisse.
Emma heiratete um 1915 den Bahnangestellten Hermann Schulz aus Westpreußen. Die beiden bekamen zwei Kinder.
Der Zweite Weltkrieg hatte dem nationalsozialistischen Deutschland bereits großartig gefeierte Siege und Halle die ersten gefallenen Söhne gebracht, der Bierumsatz der Kneipe stieg kontinuierlich, als Emma Schulz im Juni 1941 versuchte, die Schank-Konzession auf ihren Namen überschreiben zu lassen. Außerdem hatte sie vor, die Gaststätte auszubauen. August Prange lebte zu dieser Zeit nicht mehr, und die Mutter, Friederike, auf deren Namen die Konzession zu diesem Zeitpunkt noch lief, war schon sehr alt.
Zunächst wurde ein Formular ausgefüllt, das Emma Schulz als Nichtjüdin, politisch zuverlässig jedoch ohne Mitgliedschaft in der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen ausweist. Auffällig ist, dass niemals von der Gastwirtin, sondern stets von der Ehefrau Emma Schulz gesprochen wird. Eine verheiratete Frau gehörte nach nationalsozialistischem Denken in die Familie, schon gar, wenn der Ehemann ein Einkommen hatte. Auch wenn die „Kampagne gegen das Doppelverdienertum“ von 1934 lange zurücklag, hatte sich an dieser Haltung 1941 noch nichts geändert.
Als Anlagen zum Antrag finden sich alle Angaben zur Gaststätte, deren Anschrift nun Adolf-Hitler-Straße 30 lautete. Emma hatte alles zusammengestellt, auch das positive Gutachten eines Architekten und einen Grundriss des Anwesens. Der Umsatz betrug:
Der Bierkonsum stieg in dieser Zeit von 36 hl [6] auf 42 hl. Der Bierpreis betrug 20 Pfennig für 0,2 l. Falls jemand Trinkwasser bevorzugte, gab es dies reichlich, es wurde dem Brunnen entnommen.
Zu Emmas Antrag gibt es im Stadtarchiv Halle einen Briefwechsel: Es schreiben sich Herr Windmöller als Kreisgruppenleiter der „Wirtschaftsgruppe Gaststätten- und Beherbergungsgewerbe Westfalen und Lippe“ mit Sitz in Halle und der Landrat, der über den Antrag zu entscheiden hatte.
Windmöller äußert sich am 21. August 1941 entschieden gegen eine Verlängerng/Übertragung der Konzession. Halle sei mit Schankwirtschaften überbesetzt, es gebe auf 125 Einwohner je eine Kneipe, wobei er den Ortsteil Oldendorf jedoch nicht mitrechnete. Außerdem sei ein Jahresumsatz von 7.000 RM nicht existenzsichernd und ließe dem Gastwirt keinen finanziellen Spielraum für „die Verbesserung der Behaglichkeit der Gasträume, der Fremdenzimmer und vor allem der Toiletten“. Sowieso wolle der nationalsozialistische Staat auf längere Sicht 30% der kleinen Gaststätten, die das Einkommen nicht sicherten, abbauen. So solle eine wirtschaftliche Gesundung des Gaststättengewerbes zu Leistungsfähigkeit und Gastlichkeit gewährleistet werden. Dann griff der Kreisgruppenleiter mit großer Geste zu nationalsozialistischen Zukunftsvisionen:
„Nach Beendigung des Krieges wird das Gaststättengewerbe eine große Aufgabe zu erfüllen haben. Es steht zu erwarten, daß eine große Zahl von Ausländern das deutsche Land besuchen werden, auch das deutsche Volk ist sehr reisehungrig. Diese Reisenden werden nicht nur die Großstädte aufsuchen, sondern werden sich in erster Linie die schönen Wälder, auch den Teutoburger Wald ansehen. Mithin ist es erforderlich, daß auch die Gaststätten im hiesigen Bezirk so leistungsfähig wie nur möglich gestaltet werden. Dieses ist nur möglich, wenn die kleinen, unbedeutenden Betriebe, die der Öffentlichkeit nichts zu bieten vermögen, abgebaut werden. Der Betrieb Prange ist sehr unbedeutend […].“
Abschießend wies Windmöller darauf hin, dass die Antragstellerin und ihre Kinder durch das Einkommen des Ehemannes in vollem Umfang versorgt seien.
Am Rande sei bemerkt, dass Windmöller selbst eine Gaststätte unweit des Haller Bahnhofs führte…
Emma Schulz legte Beschwerde ein.
Und nun spitzte sich die Situation zu: Mutter Friederike, die Inhaberin der Schank-Konzession, starb im Laufe des offenbar taktisch verzögerten Verfahrens − nach Aktenlage zwischen dem Einwurf des Beschwerdebriefes und dem unnormal verspäteten Tag des Posteinganges.
Emma wusste, was das bedeutete: Die Schank-Genehmigung erlosch… Damit endete 1941 die Geschichte der Gastwirtschaft des „Haller Willem“.
Statt der von Windmöller erwarteten reisenden „Ausländer“ kamen bald darauf Ausgebombte und Flüchtlinge nach Halle. Das „Bedürfnis“ nach Branntwein war ungebrochen, und die verbliebenen Kneipen in Halle erlebten um 1950 eine Blüte.
Heute gibt es eine Bahnline, ein Stadtmagazin, ein jährliches Fest und Leckereien aller Art mit dem Namen „Haller Willem“.
Ohne etwas Außergewöhnliches geleistet zu haben, ist Wilhelm Stukemeier zum prominentesten Bürger der kleinen Lindenstadt geworden. Oder nicht?
Immerhin erinnert heute ein Denkmal auf Halles Ronchin-Platz an den Fuhrunternehmer und Gastwirt aus der Langen Straße 30. Sein rundliches Gesicht ist dem seiner Enkelin – Emmas Tochter – nachempfunden. Auf den Rücken seiner bronzenen Pferde reiten fröhlich die Haller Kinder. Das würde ihm wohl gefallen…
Katja Kosubek im Januar 2016
Die Schreibweise „Stukemeier“ entspricht seiner Unterschrift und Todesanzeige.
[1] Stadtarchiv Halle/Westfalen, Spezialakte C 1456 „Gast- und Schankwirtschaften, Kleinhandel mit geistigen Getränken, Stadt Halle (Westf.) 1895-1957“ Die Schreibweise des Namens Stukemeier bzw. Stuckemeyer übernehme ich im Folgenden aus dem jeweils zitierten Dokument, um deren Wandlung nachvollziehbar zu machen [kk].
[2] Dieses wie alle weiteren Zitate vgl. Stadtarchiv Halle/Westfalen, Spezialakte C 1456 „Gast- und Schankwirtschaften, Kleinhandel mit geistigen Getränken, Stadt Halle (Westf.) 1895-1957“, enthält: Akte des Landrates zu „Gaststätte Stuckemeyer, Halle (Westf.), Adolf-Hitler Straße 30“.
[3] Nach mündlicher Überlieferung war er als 21jähriger nach Halle gekommen. Zunächst fuhr er 16 Jahre lang täglich mit seinem Fuhrwerk die Strecke Halle-Bielefeld, bis Halle 1886 per Eisenbahn erreicht werden konnte und sich der Fuhrbetrieb nicht mehr rentierte. Stukemeier sattelte um und wurde Gastwirt.
[4] Der in der Akte enthaltene Grundriss des Stukemeierschen Anwesens von 1941 zeigt an der Straßenseite zwei Räume: Auf der rechten Seite die etwa 25 qm große Gaststube, links einen etwa 10 qm großen Raum, der als Laden gedient haben könnte.
[5] RM = Reichsmark
[6] hl = Hektoliter