Der kleine Willi Horn wird laut geweint haben, als Dr. Kranefuß mit zwei scharfen Schnitten das Serum in sein Ärmchen einbrachte. Schließlich konnte der Säugling nicht wissen, dass ihm die Impfung vielleicht einmal das Leben retten würde. Eine Pockenepidemie hatte Halle um 1867 in Angst versetzt. Mehrere Jahre grassierte die Seuche. Vor allem Kinder starben. Verzweifelt schloss Pastor Schrader 1872 die Hörster Dorfschule.
Dabei hatte der Haller Wundarzt Schmülling doch schon 1801 den ersten Kindern „die Kuhpocken glücklich“ geimpft… Schauen Sie sich Wilhelm Horns Impfschein (PDF) an oder erfahren Sie hier….
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Von den Pocken und der Impfung in Halle/Westfalen
Einmalig und brandaktuell erscheinen uns in der „Corona-Zeit“ Themen wie Kontaktnachverfolgung, Gesundheitsbürokratie, Massenimpfungen und Impfgegnerschaft sowie die Hoffnung auf Schutz vor Krankheit und Tod.
Doch die Impfbescheinigung von Wilhelm Horn aus Halle/Westfalen, ausgestellt am 10. Mai 1879, lässt uns ahnen, dass die gleichen Themen schon vor mehr als 140 Jahren die Menschen im jungen Deutschen Reich beschäftigten. Die Pocken, auch Blattern oder Variola genannt, forderten in Europa seit dem Mittelalter immer wieder Todesopfer. Im Verlauf des 19. Jahrhundert waren es in Deutschland manchmal Tausende jährlich. Auch in Halle starben Handwerker und Heuerlinge, Erwachsene und Kinder. Wer den qualvollen Krankheitsverlauf mit starken Schmerzen und unerträglichem Juckreiz überlebte, war in manchen Fällen erblindet und oft für den Rest des Lebens durch Pockennarben entstellt.[1]
1801 – Schmülling impft
Lange stand man der Seuche hilflos gegenüber. Es musste erst verstanden werden, dass es sich bei dieser Krankheit nicht unbedingt um eine Strafe Gottes handelte, um bösen Zauber oder schädliche Miasmen aus dem Erdboden, sondern um eine Ansteckung von Mensch zu Mensch.
Die Möglichkeit einer Impfung durch harmlose, schwach dosierte oder abgetötete Erreger, wurde gelegentlich erwogen, hatte sich noch nicht verbreitet.[2]
Berühmtheit erlangte der Brite Edward Jenner, als er 1796 erste Impfversuche unternahm. Er hatte gehört, dass Menschen, die sich bei ihren Kühen (lateinisch: Vaca) mit den harmlosen „Kuhpocken“ angesteckt hatten, anschließend auch gegen die gefährlichen „Menschenpocken“ immun waren. Gezielt infizierte er nun Kinder, indem er ihnen eine kleine Wunde zufügte und das Sekret aus menschlichen Kuhpockenpusteln hineinstrich. Die „Vaccination“, zu deutsch „Impfung“ gelang.[3]
Der Haller Arzt Engelhard Schmülling, der im Haus Lange Straße Nr. 33 praktizierte, begann nur wenig später, Kinder zu immunisieren. In einem Zeitungsbericht aus dem Jahr 1801 lesen wir von seinem Erfolg: „Einigen 40 Kindern impfte Herr S. die Kuhpocken glücklich.“[4]
Doch offenbar wurde Schmüllings segensreiches Wirken nicht fortgesetzt. In den späten 1860er Jahren griffen die Pocken in Bokel, Tatenhausen, Kölkebeck und Brockhagen wieder um sich. Die Kranken bekamen hohes Fieber, Kopf- und Rückenschmerzen, bevor ihre Haut nach ein paar Tagen mit den charakteristischen Eiterbläschen übersäht war. Ein Heilmittel gab es nicht. Auch der Ansteckungsweg, eine Tröpfcheninfektion, schien der Landbevölkerung nicht bekannt gewesen zu sein. So machten Nachbarn, Verwandte und Bekannte ihre freundlichen Besuche am Krankenbett ― völlig ungeschützt, ohne Abstandhalten, ohne Mundschutz.
1867 – Erkranktenlisten dokumentieren Tragödien
Zumindest fand aber eine Art Kontaktnachverfolgung statt: Im Jahr 1867 führte Amtmann Friedrich Altheide ein „Journal“ in das er tabellarisch die Pockenkranken eintrug.[5] Akribisch erfasste er Namen, Stand, Wohnort, Haus-Nummer, Alter, Religion, Erkrankungs- und Gesundungszeitpunkt sowie den behandelnden Arzt. In einer Extra-Spalte notierte der Amtmann die „Muthmaßliche Veranlassung zu der Erkrankung“, also wo sich die Unglücklichen möglicherweise angesteckt hatten. Dieses war eine ganz und gar analoge Dokumentation, die aber schon damals mit der auch heute noch viel zitierten deutschen Gründlichkeit angelegt wurde.
Aus der Tabelle lesen sich Geschichten, manchmal Tragödien. Drei Beispiele sollen die Infektionswege zeigen: Der 16jährige Sohn der Familie Brachmann aus Bokel erkrankte am 10. April. Er infizierte seinen Vater, seine ältere Schwester Wilhelmine und den kleinen Bruder Heinrich August, die alle am 23. April auf das Krankenlager sanken. Kuru darauf brachen die Pocken auch bei der Mutter [oder Tante] aus.[6] Doch während sie und die Söhne alsbald wieder gesund wurden, fehlt im Listeneintrag von Vater und Tochter ein Genesungsdatum…
Der 27jährige Buchbindergeselle Wilhelm Westermann aus Warburg hatte sich während seiner Wanderschaft die Pocken eingefangen und landete sterbenskrank in Halle. Im Eckhaus Lange Straße 31 wurde er gepflegt, bis die Eiterblasen endlich abheilten.
Eine „Super-Spreaderin“ war leider auch die 19jährige Charlotte Holste aus Brockhagen. Sie infizierte ihre ältere Schwester und die Nachbarin Frau Diestelkamp, die wiederum den Schneider Drewel ansteckte. Ferner bekam die Hebamme Frau Wagemann aus Kölkebeck die Pocken durch den Kontakt zu Familie Holste. Die Pocken hatten leichtes Spiel: Im Laufe eines halben Jahres notierte Amtmann Altheide 23 Pockenkranke in den südlichen Haller Bauerschaften einschließlich Tatenhausen. Das Genesungsdatum fehlt bei sechs von ihnen…
Bei den letzten großen Pockenepidemien 1870 und 1873 in Deutschland mit mehr als 400.000 Erkrankten starben 181.000 Menschen.[7]
1872 – Schulschließung in Hörste
Infektionsherde waren – damals wie heute – Orte, an denen viele Menschen eng zusammen kommen, so wie Tag für Tag an den Schulen. In der Dorfschule Hörste wüteten die Pocken 1871 besonders grausam. Etliche Mädchen und Jungen erlagen den bösartigen Blattern. Als sich im Jahr darauf die nächste Pockenwelle ankündigte, zog der Hörster Pastor Friedrich Schrader die Reißleine.[8] Ohne auf eine Genehmigung des zuständigen Haller Amtmanns Altheide zu warten, schloss er eigenmächtig die Schule… Entsprechend diplomatisch ist sein Ton, in dem er den Amtmann informiert und um Hilfe bittet:
Hörste, den 26. Januar 1872
Geehrter Herr Amtmann!
Sie werden es mir, wie ich hoffe, nicht übel deuten, daß ich mir erlaube, wegen der hier weiter um sich greifenden Menschenblattern Ihnen Mitteilung zu machen.
Wie ich gestern Abend höre, liegt nun auch die Frau des am 10ten d. M. gestorbenen Heuerlings Stolte bei N. 41 krank an den Blattern darnieder, und ebenso auch die Frau des Heuerlings Finkmann bei N. 43 (jetzt : 21) […] Heuerling Finkmann, der mir den Todesfall des Stolte anzeigte, sagte mir damals, wenn die Pocken ansteckten, dann wären sie alle dort unglücklich, da fast alle in der Umgegend den Pockenkranken besucht hätten, und mit ihm in Berührung gekommen wären.
Da sie nun, sehr geehrter Herr Amtmann, sich um unsere Gemeinde als vor etwa zwei Jahren die Scharlach-Epidemie hier herrschte, dadurch so hoch verdient gemacht haben, daß Sie sofort „Aussetzung des Schulunterrichtes“ anordnen; werden Sie ja auch jetzt uns nicht verlassen, und bald die nötigen Befehle geben. Damals starben in 10 Tagen vier oder fünf Kinder […]. Ich werde die Lehrer vorläufig ersuchen, wenigstens für Morgen die Schule zu schließen, und werde damit zu mal keine […] begehen.
Mich Ihnen bestens und hochachtungsvoll empfehlend
Schrader, Pfarrer
Amtmann Friedrich Altheide leitete die Eingabe des Pastors an den wohlgeborenen „Kreisphysikus“[9] Strauch weiter. Wie auf Kreisebene weiter verfahren wurde, muss noch erforscht werden… Aktiv werden
1874 – Die Impfpflicht kommt!
Mit dem Reichsimpfgesetz vom 8. April 1874 wurde die Pockenschutzimpfung verpflichtend. Zuwiderhandlungen konnten mit Geldbußen oder gar Ordnungshaft bestraft werden. Und so wurden die Kinder von nun an im Alter von einem Jahr erstgeimpft, die Wiederholungsimpfungen erfolgten als Reihenimpfungen in den Schulen. Wobei der heute sprichwörtliche „kleine Pieks“ wohl eher ein kleiner Schnitt war: eine Lanzette wurde zunächst in das Schälchen mit der Impflymphe getaucht, mit der benetzten Lanzette wurden dann mehrere kleine Ritzungen am Oberarm des Schulkindes durchgeführt. Es bildeten sich nach wenigen Tagen kleine Pusteln und schließlich die charakteristische Narbe von der Größe eines 1-Cent-Stückes, die man auch heute noch an den Armen von Geimpften sehen kann. Nach der Ritzung wurden die Lanzetten über einer kleinen Flamme sterilisiert, so konnten sie gleich weiterverwendet werden.[10]
Mit dem Erlass des Reichsimpfgesetzes 1874 hat aber auch damals schon die Impfgegner- Bewegung einen organisierten Charakter erfahren.[11] So diente das 1881 gegründete Monatsblatt „Der Impfgegner“ als öffentliches Forum und als Organisationsplattform für ein regionales und überregionales Impfgegner-Netzwerk. „Der ‚Impfgegner‘ verstand sich als Sprachrohr und Medium des Widerstandes gegen das Impfen sowie gegen die Befürworter der Impfung“[12]. Es sollten Fälle von Impfversagen oder Impfkomplikationen gesammelt und Aussagen von Impfbefürwortern sowie das tagespolitische Geschehen kommentiert werden. Der „Deutsche Bund der Impfgegner“ brachte 1908 einen „Ratgeber für Impfprozesse“ heraus, in welchem detaillierte Verhaltensregeln für Impfgegner sowie Vorlagen für Schreiben an die Behörden zusammengestellt wurden, um die Pockenimpfung zu umgehen, möglichst unter Vermeidung von Strafe.
2021 – Alles wie gehabt?
Vieleicht ist es für uns heute ein wenig tröstlich zu hören, das auch schon damals eine Impfung Gesetze, Regeln und Formulare erforderte. Und schon damals entstand durch Kritiker eine breite gesellschaftliche Diskussion.
Der wirkliche Mutmacher bei dieser kleinen Impfgeschichte: Letztlich hat es geklappt, die Pocken sind besiegt, 1980 erklärte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sie für ausgerottet.
Stefan Plogmann (Idee, Recherche & Text)
Wolfgang Kosubek (Archivrecherche & Transkription)
Dr. Katja Kosubek (wiss. Bearbeitung & Redaktion)
Wir danken dem Krankenhausmuseum Bielefeld für die Unterstützung, sowie dem Deutschen Medizinhistorischen Museums Ingolstadt, der Medizingeschichtlichen Sammlung der Universität Würzburg und der Sammlung Kugener für die Erlaubnis zur Veröffentlichung ihrer Fotos.
[1] Axel C. Hüntelmann (Charité, Berlin) beschreibt den Krankheitsverlauf wie folgt: „Nach einer zehn- bis dreizehntägigen Inkubationszeit zeigte die erkrankte Person schwere Infektionserscheinungen wie Mattigkeit und Hinfälligkeit, nervöse Reizung, hohes Fieber und hohen Puls, starke Kopf- und Kreuzschmerzen, Reizungen der Haut und Schleimhaut sowie Ausschläge oder Erytheme. Nach vier Tagen bildeten sich auf der Haut und den inneren Schleimhäuten kleine Bläschen, die zu Knötchen anwuchsen und schließlich zu Eiterpusteln mutierten, die zuweilen ineinander übergehend den ganzen Körper bedeckten. Da auch die inneren Schleimhäute in Mitleidenschaft gezogen waren, traten diphtherieähnliche Erscheinungen im Rachen auf, schwere Diarrhöen, und es drohte Blindheit durch Zerstörung der Hornhaut. Nachdem das Fieber nach der Initialphase erst gesunken war, stieg es in der folgenden Entzündungsphase wieder an. Die Schmerzen wurden begleitet und abgelöst durch einen starken Juckreiz, wenn die Pusteln nach ca. zwei Wochen verschorften und abfielen, sodass rasende Kranke, um sich nicht die Haut aufzukratzen, mitunter fixiert wurden [4: 8–14]. Die hohe Sterblichkeit und die grausamen Krankheitserscheinungen führten schon früh dazu, dass man versuchte, den Ausbruch von Pocken zu verhindern – oder zumindest die Symptome abzuschwächen.“, Axel C. Hüntelmann: Pockenimpfung in Deutschland vor und nach Jenner, in : Trillium – Zeitschift für Immunoligie, Heft 3/2019, URL: https://www.trillium.de/zeitschriften/trillium-immunologie/archiv/ausgaben-2019/heft-32019/aus-der-geschichte/pockenimpfung-in-deutschland-vor-und-nach-jenner.html [online am 5. Juli 2021].
[2] Ebd.
[3] Das Wort „impfen“ hat seinen Ursprung im griechischen „emphyteúein“ = pfropfen, veredeln; die gleiche Bedeutung hat das althochdeutsche „imphon“. Das lateinischen „imputare“ = hineingeben findet sich im heutigen Anglizismus „Input“, vgl. Duden Herkunftswörterbuch „impfen“, URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/impfen [online am 5. Juli 2021].
[4] Johann Moritz Schwager: Halle, ein lachendes Städtchen in der Graftschaft Ravensberg, Reisebericht an einen Freund – Erschienen im Westfälischen Anzeiger im Herbst 1801.
[5] Stadtarchiv Halle (Westf.), Akte A 409, Erkranktenlisten.
[6] Ebd. Eingetragen ist hier nur Brachmann, Frau, Alter 50 Jahre.
[7] Thomas Meißner: Impfen und zweifeln – Damals wie heute, in: ÄrzteZeitung, e-Paper veröffentlicht am 17. Oktober 2019, URL: https://www.aerztezeitung.de/Politik/Impfen-und-zweifeln-Damals-wie- heute-402566.html [online am 4. Juli 2021].
[8] Pastor Theodor Friedrich Schrader (13. September 1790 – 14. September 1877) war Privatlehrer und Pfarrer in Hörste und zum beschriebenen Zeitpunkt bereits 81 Jahre alt.
[9] Der „Kreisphysikus“ oder Kreisarzt, hier des Kreises Halle (Westf.), war ein staaatlicher Gesundheitsbeamter, der sich durch besondere Prüfungen qualifiziert haben musste.
[10] Vgl. Deutsches medizinhistorisches Museum Ingolstadt, URL: https://www.dmm-ingolstadt.de/covid-19/covid-19-history/impfen-ii.html [online am 6. Juli 2021].
[11] Patrick T. Mayr: Die Impfgegnerschaft in Hessen – Motivationen und Netzwerk (1874-1914), Dissertation, Marburg 2018, als PDF der Universität Marburg veröffentlicht unter URL: https://archiv.ub.uni-marburg.de/diss/z2018/0314/ [online am 5. Juli 2021.]
[12] Ebd. S. 56.
Impfschein aus dem Jahr 1879. In Halle/Westfalen impft der Hausarzt Dr. Kranefuß den Säugling Wilhelm Horn. Leihgabe von Barbara Brante.
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