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AusstellungZeitRaum 4 Erster Weltkrieg & Weimarer RepublikThemenwand Not & Politik Schlafstellenwesen

Schlafstellenwesen

Metall, lackiert | um 1910
Leihgabe von Ilka Windisch

 

Der Schlafgänger kam… legte sich für einige Stunden in ein fremdes Bett – und verschwand alsbald wieder an seine Arbeitsstelle. In Halle herrschte nach dem Ersten Weltkrieg Wohnungsnot. Sogar der Aussichtspavillon Kaffeemühle wurde 1922 als Wohnraum in Erwägung gezogen.

Viele Arbeiterinnen und Arbeiter kamen von auswärts in die Kreisstadt. Sie brauchten eine Unterkunft oder wenigstens einen Schlafplatz. Kriegerwitwen und Kriegsinvaliden, die stundenweise ihr Bett vermieteten, brachte dies einen willkommenen Nebenverdienst.

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Details und Hintergründe

Diese Verhältnisse in Halle, die teils zu skurrilen Situationen führten und dem Beamtentum Anlass zur ausgiebigen Regelung gaben (siehe Schlafstättenverordnung von 1899), werden von dem Historiker Dr. Uwe Heckert in seinem Buch „Halle in Westfalen, Geschichte(n) einer Stadt am Teutoburger Wald“, recht eindrucksvoll und anschaulich geschildert:

Das Schlafstellenwesen als Indiz für soziale Not

Auch die Haller Industrie hatte einen Bedarf an Arbeitskräften, den die hiesigen ländlichen Strukturen nicht decken konnten, das hatte auch der Eisenbahnbau gezeigt. So kamen auswärtige Arbeiterinnen und Arbeiter nach Halle, und es stellte sich bald die Frage, wo sie untergebracht werden konnten.

Arbeiter der Lederfabrik Bergenthal. Foto Stadtarchiv Halle (Westf.)

Als der Mindener Regierungspräsident am 11. Juli 1899 anfragte, wo sich auf dem platten Lande Genossenschaften zum Bau von Arbeiterwohnungen gebildet hätten, musste Amtmann Schwollmann Fehlanzeige erstatten. Es bestanden in Halle überhaupt keine gemeinnützigen Bauvereine. Lediglich die Firmen Hackmann und Rolff hatten Arbeiterwohnungen errichtet, und zwar insgesamt sechs. Zu jedem der Doppelhäuser gehörte ein Stall für Ziegen und Schweine. Einen Wohnungsmangel konnte der Amtmann in Halle überhaupt nicht feststellen, denn die Arbeiter wohnten hier nach seiner Einschätzung zum größten Teil in ihren eigenen Häusern. Über diese Feststellung des Amtmanns kann man nur staunen, er kann damit nur die eingesessene Einwohnerschaft gemeint haben.

Die arbeitende Bevölkerung war um die Jahrhundertwende ungeheuer flexibel, viel mehr, als wir uns das heute vorstellen können oder für uns selbst erstreben würden. Viele zogen der Arbeit hinterher, von der es im Deutschen Reich immer (irgendwo) genügend gab.

Modernes Transportmittel: Der Haller Willem. Stadtarchiv Halle Westf.

Modernes Transportmittel: Der „Haller Willem“. Foto: Stadtarchiv Halle (Westf.)

Deshalb kam es zu einer permanenten Wanderungsbewegung einer großen Anzahl von Menschen, für die vorübergehend Wohnraum gebraucht wurde. Das ist der Hintergrund des Schlafstellenwesens. Unter diesem Stichwort verbirgt sich eine Erscheinung, die heute unvorstellbar erscheint: Familien haben ganze Zimmer oder auch nur einzelne Betten für eine Anzahl von Stunden an Schlafgäste vermietet. Das konnte dazu führen, dass sozusagen schichtweise in diesen geschlafen wurde.

Nun wäre Preußen nicht Preußen gewesen, wenn es hierzu nicht ausgeklügelte Vorschriften gegeben hätte. Und in der Tat regelte eine Schlafstättenverordnung die Mindestgröße und Beschaffenheit der Zimmer. Vorgeschrieben waren drei Quadratmeter Bodenfläche für jeden Erwachsenen, bei Kindern gab man sich mit zwei Dritteln davon zufrieden. Der Raum musste eine abschließbare Tür und einen Dielenboden haben. Fenster und Belüftungsmöglichkeiten waren ebenso vorgeschrieben wie eine Mindestausstattung der Schlafstelle (Strohsack, strohgefülltes Kissen, Wolldecke). Es durften keine Kellerräume oder Nebenräume von Aborten sein. Dachbodenzimmer mussten mit Holz verkleidet sein. Und: Nur Personen gleichen Geschlechts durften als Schlafgäste ein Zimmer teilen, außer es handelte sich um Familien. Bei der bestehenden Wohnungsnot wurden die Bestimmungen oftmals weniger streng gehandhabt. Der Haller Amtmann plädierte am 17. Februar 1908 für eine großzügige Auslegung der Verordnung, weil Schlafstellen auf dem Lande schlecht zu haben waren. Einer der Vorschriften war im ländlichen Raum ohnehin kaum nachzukommen: Die geforderte Mindestraumhöhe von 2,5 Metern wurde bei den gängigen Fachwerkhäusern nur selten erreicht. Auch die vorgeschriebene Anmeldefrist für Schlafgäste (eine Woche) wurde oft nicht eingehalten. Die Behörde ließ einen Mangel in der Regel durchgehen, das Vorhandensein mehrerer Verstöße führte jedoch dazu, dass keine Genehmigung erteilt wurde. In einigen Fällen agierte die Polizeibehörde dennoch erstaunlich flexibel. So gestattete sie 1910 einer arbeitsunfähigen und tuberkulosekranken Frau nach einigem Zögern, einen Schlafgast aufzunehmen, sofern sie stets eine Spuckflasche mit sich führte. Weniger tolerant war man gegenüber wilden Ehen und Konkubinaten. Hier kontrollierte die Behörde besonders streng. In einem Fall aus dem Jahr 1906 kam heraus, dass es in der Wohnung einer Vermieterin nur Durchgangszimmer gab, was für die Obrigkeit einen hinreichenden Verdacht auf eine wilde Ehe ergab.

Mit welch elenden Verhältnissen man auch in Halle konfrontiert werden konnte, zeigt der Fall eines Maurers. Er hatte im April 1901 ein junges Mädchen bei sich aufgenommen, das offenbar in der Bindfadenfabrik Hackmann arbeiten wollte.

Schlot der Bindfadenfabrik mit Fabrikantenvilla. Foto: Stadtarchiv Halle (Westf.)

Nun besaß dieser Maurer nur ein einziges Bett, in dem sein junger Schlafgast mit ihm und seiner ganzen Familie nächtigen sollte. Das war dem Amtmann entschieden zuviel, und er forderte unter Androhung einer Geldstrafe, dass sich die junge Frau eine andere Bleibe suchte. Ein Schlaglicht auf die prekäre Wohnraumsituation wirft der daraufhin erfolgte Einspruch ihres Arbeitgebers, Gottlieb Buskühl, der den Amtmann darauf hinwies, dass dies völlig unmöglich sei. Sein Einspruch führte immerhin dazu, dass die Umzugsfrist um einige Tage verlängert wurde.

Die Polizeibehörde prüfte auch von sich aus, ob Personen bei anderen Familien fest eingezogen waren. So erging es einer Dienstmagd, die schon seit vierzehn Tagen ununterbrochen bei einer mittellosen Familie in Steinhagen lebte. Angesichts der Personenzahl und der Tatsache, dass nur zwei Betten vorhanden waren, ging die Polizeibehörde auch hier von einem Verstoß gegen die Schlafstättenverordnung von 1899 aus.

Noch 1926 wurde einem Künsebecker Korbmacher untersagt, seinen zukünftigen Schwiegersohn einziehen zu lassen, weil dieser und seine Tochter noch nicht verheiratet waren. Das Schlafen in einem Raum wäre als Konkubinat angesehen worden. Nach dem Ersten Weltkrieg offenbarte sich in der Schlafstellenfrage das ganze Ausmaß des Elends. Aus den Akten geht hervor, dass hauptsächlich (Krieger-)Witwen auf Einkünfte aus der Vermietung angewiesen waren. Die Frauen hatten oft viele Kinder zu versorgen und erhielten anderweitig kaum Unterstützung. Besonders krass war in diesem Zusammenhang der Fall eines Künsebecker Kalkbrenners und seiner Frau, die aufgefordert wurden, eine Kriegerwitwe mit ihren zwei kleinen Kindern aus der Wohnung zu weisen, weil das Schlafzimmer nicht den Vorschriften entsprach. Die Ehefrau des Kalkbrenners erreichte schließlich die Rücknahme der Verfügung, weil ihr die Witwe im Haushalt zur Hand gehe – und ihr selbst die linke fehlte. Die Witwe durfte immerhin für die Dauer des Krieges in der Wohnung bleiben.

Die Verhältnisse besserten sich bis in die späten 1920er Jahre kaum. In der kleinen Wohnung eines Künsebecker Tischlermeisters wohnten im Jahr 1926 außer seiner sechsköpfigen Familie nicht weniger als fünf Schlafgäste. Nicht nur Witwen, auch die Familien von Invaliden und Kriegsbeschädigten versuchten durch Vermietungen an Schlafgäste etwas Geld hinzu zu verdienen. Die Wohnungsnot ließ die Behörden etwas weniger streng urteilen. 1927 wurde einem Künsebecker erlaubt, in seiner ohnehin schon überbelegten Wohnung noch zwei Schlafgäste aufzunehmen. In der Genehmigung vom 21. Juli 1927 ist davon die Rede, dass in der Gemeinde Künsebeck Wohnungsnot herrschte und sich die Unterbringung der Leute unter genauer Beachtung der polizeilichen Vorschriften nicht immer ermöglichen ließ. Ein Jahr später wurde die Wohnungsnot in Künsebeck dadurch verschärft, dass die dortige Firma Köppen ihr Massenquartier schloss und die Arbeiter eine Bleibe suchen mussten, in der sie gemäß den Schichten schlafen konnten. Selbst die moralischen Schranken kamen durch den Mangel an Wohnraum langsam ins Wanken. Jetzt wurde angesichts der grassierenden Obdachlosigkeit sogar der gemeinsamen Unterbringung von zwei Personen, die offen ein Verhältnis unterhielten, als Schlafgäste in einem Haushalt stattgegeben. Die Problematik des Schlafstellenwesens hält bis in die Zeit des Dritten Reichs nahezu unvermindert an.

Recherche und Einführung: Andreas Germann
Text: Uwe Heckert, Die Stadt Halle in Westfalen – Geschichte(n) einer Stadt am Teutoburger Wald, Bielefeld 2005, S. 96f.