Als der Krieg zuende war, kam Bruno Rothschild wieder nach Hause, nach Künsebeck. Er hatte Hitler überlebt. Was wäre aus dem Sohn eines jüdischen Vaters geworden, wenn er nicht den Mut gehabt hätte, aus dem Konzentrationslager zu fliehen? Und was, wenn ihm niemand geholfen hätte, im Verborgenen zu leben?
Ältere Künsebecker erinnern sich noch gut an Bruno Rothschild als den Pferde- und Ziegenhändler im Dorf. Über sein Leben – vor seiner Rückkehr im Frühling 1946 – ist wenig bekannt. Erfahren Sie hier …
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„Bruno Rothschild hat unsere Ziegen gekauft.“ erinnern sich ältere Leute in Künsebeck, oder: „Er kam öfter zu uns in die Schmiede, wenn er was für seine Ziegen brauchte.“[1]
Bruno Rothschild war der Pferde- und Ziegenhändler im Dorf. Allerdings: „Mit Pferden war nach dem Krieg nicht mehr viel, aber ein oder zwei Ziegen hatten wir alle.“ erklärt eine Künsebeckerin, „So eine Ziege gibt Milch und man braucht dafür weniger Futter als für eine Kuh. Die Ziege wurde am Bahndamm oder am Straßenrand angepflockt, und dann konnte sie grasen.“
Man kannte Bruno Rothschild; er hatte schon als junger Mann in den 1920er Jahren in Künsebeck gelebt. Einige Monate nach Kriegsbeginn sah man ihn im Dorf nicht mehr – doch im Frühjahr 1946 kam er zurück. Was passierte dazwischen?
Wussten die Leute, dass der Mann mit den hellen Augen Jude war?
Das Team der Haller ZeitRäume hat begonnen, Bruno Rothschilds Geschichte zu erforschen. Helfen Sie uns gern dabei! Kontakt…
Was wir bisher wissen
Das Ehepaar, Moses Rothschild und Johanne geb. Tremper, lebte um 1900 in Bielefeld.[2] Eheschließungen zwischen einem israelitischen Bräutigam und einer evangelischen Braut – oder umgekehrt – waren in der liberalen Großstadt nicht ganz ungewöhnlich. Den beiden wurde im ersten Jahr des neuen Jahrhunderts eine Tochter geboren, Brunhilde Wilhelmine.[3]
Am 14. April 1904 folgte deren kleiner Bruder, Bruno Karl.[4]
Die Familie, zumindest Vater und Sohn, gehörten der jüdischen Gemeinde an.[5] Bruno besuchte acht Jahre lang eine Schule in Bielefeld, die Hälfte davon fiel in die Zeit des Ersten Weltkriegs. Während dieser Jahre lebten Rothschilds im Bielefelder Osten, erst im Ehlentruper Weg, dann in der Fröbelstraße.[6] Anschließend trat er in die Fußstapfen seines Vaters und lernte das Schlachterhandwerk.
Im Sommer 1921 zog der 17-jährige Bruno nach Künsebeck, allein oder mit seiner Familie, und lebte hier viele Jahre.[7] Aus dem Adressbuch für den Kreis Halle (Westf.) ist zu erfahren, dass Bruno Rothschild 1938, zusammen mit seiner Mutter Johanne, im Haus Künsebeck Nr. 113 lebte.[8] Zum Grundstück gehörte eine kleine Weide für das Vieh. Vater Moses Rothschild war zu dieser Zeit bereits verstorben, Schwester Brunhilde hatte 1932 nach Münster geheiratet.
Was bedeuten die „Nürnberger Rassegesetze“ für Bruno?
Für Bruno dagegen, der 28 Jahre alt war, als die nationalsozialistische Diktatur 1933 begann, war eine Heirat kaum noch möglich. Nach den Nürnberger Rassegesetzen galt er als „Halbjude“ oder amtlich „jüdischer Mischling ersten Grades“. Dadurch verlor der junge Mann Rechte, die vorher ganz selbstverständlich waren, wie etwa eine Frau zu heiraten, die er liebte. Für die Ehe mit einer „arischen“ Braut, hätte er eine Genehmigung beantragen müssen. Doch es war bekannt, dass diese Anträge gemeinhin abgelehnt wurden und aussichtslos waren.
Im Jahr 1938 lebte Bruno Rothschild also in Künsebeck und war als Schlachter tätig.[9] Er wusste, wer in Künsebeck und Brockhagen ein „strammer Nazi“ oder ein „ganz fanatischer Judenhetzer“ war, und auch wer jüdische Familien in Brockhagen, Halle, Versmold und Werther „ganz erheblich geschädigt“ hatte.[10] Ob er selbst antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt war, ist noch nicht geklärt.
Auf Anweisung einer örtlichen Behörde musste Bruno Rothschild im März 1940 wieder nach Bielefeld ziehen.[11] Während er erlebte, wie ab Dezember 1941 die jüdischen Bielefelder Familien deportiert wurden und das Finanzamt Bielefeld ihren zurückgelassenen Besitz versteigerte,[12] war er als „Halbjude“ noch zurückgestellt. Doch am Rande der „Wannsee-Konferenz“ berieten im Januar 1942 nationalsozialistische Staatssekretäre schon darüber, ob auch „Halbjuden“ deportiert und getötet werden sollten oder ob eine Zwangssterilisierung aller „Mischlinge ersten Grades“ ebenso ausreiche, um alles Jüdische auszurotten.[13]
Das hier gezeigte Dokument wurde in der Britischen Besatzungszone, zu der Halle gehörte, von der International Refugee Organisation (IRO) ausgestellt. Er konnte sich damit als Opfer nationalsozialistischer Verfolgung ausweisen. Sein Aufenthalt während der vergangenen 12 Jahre ist genau aufgeführt. Nur so haben wir von seiner Flucht erfahren. „Certifificate of Eligibility“ für Bruno Rothschild, Bescheinigung und Fragebogen zur Person vom 30. November 1949. Arolsen Archives, Dokument Nr. 79665598.
Überleben! – Arbeitslager und Untergrund
Vier Jahre verbrachte Bruno Rothschild in Bielefeld, arbeitete auch hier als Schlachter, bevor er im April 1944 inhaftiert wurde. Man brachte ihn in ein Arbeitslager der „Organisation Todt“, am Flugplatz Störmede bei Geseke. Dort waren mehrere Jagdgeschwader stationiert. Die Häftlinge wurden als „Flugplatzkommando Störmede“ zu körperlich schweren Bau- und Erdarbeiten gezwungen – bei jedem Wetter.[14] Nach acht Wochen im Lager gelang dem mutigen Bruno Rothschild die Flucht. Er konnte sich nach Münster durchschlagen und dort – möglicherweise mit Hilfe seiner Schwester – untertauchen. Nach vier Monaten wechselte er sein Versteck und kam einige Wochen in Dortmund unter. Mittlerweile war es Weihnachten 1944 geworden und die Hoffnung, von den vorrückenden Alliierten befreit zu werden, wuchs. Der Untergetauchte gelangte nach Lemgo und blieb hier ein weiteres Vierteljahr unentdeckt, bis am 4. April 1945 auch dort endlich die amerikanischen Truppen einrollten. Bruno Rothschild war frei – er hatte überlebt.
Im Jahr 1933 war er 29 Jahre alt gewesen – jetzt war er 41. Was hielt das Leben noch für ihn bereit?
Ein Wiedersehen gab es mit seiner Mutter, mittlerweile eine Frau in den Sechzigern. Am 15. März 1946 ließ er seine Rückkehr nach Künsebeck beim Einwohnermeldeamt eintragen. Und eine Heirat stand an. Anneliese Richter hieß die Auserwählte und stammte aus Dortmund. Doch die Verbindung zerbrach schon zwei Jahre später. Erst mit seiner Emmy, geborene Bohle aus Holterdorf bei Melle, fand Bruno Rothschild die Frau seines Lebens.
Nach der Hochzeit im Jahr 1952 waren den Eheleuten noch 20 gemeinsame Jahre vergönnt. Mutter Johanne wohnte mit im Haus, Schwester Brunhilde und deren Sohn kamen zu Besuch. Seinen Neffen hatte Bruno offenbar besonders gern und schenkte dem jungen Mann ein Moped. Als der Neffe damit „den Rhein hinauf“ knatterte, „bis in die Schweiz“ und Postkarten nach Künsebeck schickte, war seine abenteuerliche Fahrt das Dorfgespräch![15]
Sehr alt wurde der Schlachtermeister Bruno Karl Rothschild nicht. Er starb mit 68 Jahren am 13. Oktober 1972.
In seiner Traueranzeige, die im Haller Kreisblatt erschien, heißt es: „Nach kurzer, schwerer Krankheit nahm Gott der Herr heute in der frühen Morgenstunde meinen lieben Mann, meinen treusorgenden Sohn, Schwiegersohn, Bruder, Schwager und Onkel […] zu sich in sein Reich.“ Nach der Trauerfeier in der alten Haller Friedhofskapelle wurde er auf dem evangelischen Friedhof III an der Bielefelder Straße beerdigt.
Sein Trauerspruch lautete: „Meine Seele ist stille zu Gott, der mir hilft.“[16]
Recherche: Martin Wiegand
Text und Redaktion: Dr. Katja Kosubek
27. Januar 2025
[1] Erzählungen von Zeitzeugen aus Künsebeck, 18. – 25. Januar 2025.
[2] Moses Rothschild * 3. März 1872, Johanne Rothschild geb. Tremper * 18. September 1879, vgl. Meldekarte Bruno Rothschild, Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 104, 3/Einwohnermeldeamt.
[3] Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 104,2.20/Standesamt, Personenstandsregister, Nr. 100-1900,2: Geburtsregister Bielefeld 1900, Bd. 2, Nr. 1561/1900. Brunhildes Geburtsdatum war der 30. August 1900.
[4] Stadtarchiv Halle (Westf.), Melderegister, Meldekarte Rothschild, Bruno Karl.
[5] vgl. Meldekarte Bruno Rothschild, Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 104, 3/Einwohnermeldeamt.
[6] vgl. Meldekarte Bruno Rothschild, Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 104, 3/Einwohnermeldeamt.
[7] vgl. Meldekarte Bruno Rothschild, Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 104, 3/Einwohnermeldeamt.
[8] Adressbuch für den Kreis Halle (Westf.) von 1938. Die heutige Adresse ist Wielandstraße 11. Das Haus der Rothschilds wurde vor Jahren abgebrochen. Auf dem Grundstück steht heute ein Firmengebäude..
[9] Er war bei Bernhard Rothschild (Bielefeld) angestellt, der ein Verwandter gewesen sein könnte. Arolsen Archives, Dokument Nr. 79665598, „Certifificate of Eligibility“ für Bruno Rothschild, Bescheinigung und Fragebogen zur Person.
[10] xx Heimatjahrbuch Kreis Gütersloh 2025, S. xx. Zeugenaussage von Bruno Rothschild im Entnazifizierungsverfahren des „Landesbauernführers“ Ernst Kienker.
[11] Seine Adresse war ab 15. März 1940 Horst-Wessel-Straße 76, ab Februar 1941 dann Königstraße 69. Arolsen Archives, Dokument Nr. 79665598, „Certifificate of Eligibility“ für Bruno Rothschild, Bescheinigung und Fragebogen zur Person.
[12] Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld: „Spurensuche Bielefeld“, Dossier „Deportationen aus bielefeld“, URL: https://spurensuche-bielefeld.de/dossier-deportationen-aus-bielefeld/ [online am 25. Januar 2025].
[13] Ausführung vom Staatssekretär im Reichinnenministerium Wilhelm Stuckart, zitiert nach Beate Meyer:Rassenpolitik und Verfolgungserfahrung, 4. Auflage, Hamburg 2015, S. 98.
[14] Reinhard Tenhumberg, Datenbank „Lager 1933-1945“, Störmede URL: http://www.tenhumbergreinhard.de/1933-1945-lager-1/1933-1945-lager-g/geseke-ortsteil-stoermede.html [online am 25. Januar 2025]. (private Website ohne Quellenangaben). Nach Tenhumberg bestand dieses Lager von April-Oktober 1944. Die Inhaftierten seien vor allem „Halbjuden aus Minden“ gewesen.
[15] Erzählung eines Zeitzeugen aus Künsebeck am 18. Januar 2025.
[16] Haller Kreisblatt von Samstag, dem 14. Oktober 1972.