Wie ein Lauffeuer sprach es sich herum: „Das Arbeitsdienstlager auf dem Schützenberg wird geplündert!“
Es war kurz nach Ostern 1945, wenige Tage nachdem amerikanische Panzer Halle erreicht hatten. Einheimische und ehemalige Kriegsgefangene strömten auf den Schützenberg, manche kamen gleich mit Handkarren oder Pferdewagen. Es herrschte fieberhaftes Chaos. Nach Jahren der Mangelwirtschaft gab es hier im Überfluss Mäntel, Decken und Geschirr zu „organisieren“….
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Von etwa 1940 bis 1945 war der Schützenberg für die Öffentlichkeit gesperrt, denn hier stand ein Lager des „Reichsarbeitsdienstes für die weibliche Jugend“ (RADwJ oder RADw). Die Unterkünfte der „Arbeitsmaiden“ sowie die Lagerräume für Ausrüstung und Uniformen befanden sich in Baracken, die wohl unterhalb der Schützenhalle auf dem Festplatz errichtet waren.
Unmittelbar nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges, am 4. September 1939, begann die Mobilmachung der jungen Frauen in Deutschland. Die Einführung der „Arbeitsdienstpflicht für die weibliche Jugend“ war bereits am 1. April 1936 beschlossen worden, wurde aber erst jetzt umgesetzt.[1] Sie gehörte zum Aufbau einer effizient arbeitenden Heimatfront, an der Frauen die zur Wehrmacht eingezogenen Männer ersetzten. Einberufen wurden ledige Frauen zwischen 17 und 25 Jahren.
Dies stand jedoch im Widerspruch zur nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik, die die deutsche Frau in erster Linie in der Funktion der Mutter vorsah. Innerhalb der NS-Führungsriege kam man bis zuletzt zu keiner Einigung über die Frauenarbeit im Krieg. Zudem wurde ein Umschlagen der Stimmung an der „Heimatfront“ befürchtet. Die weibliche Dienstverpflichtung wurde darum nie konsequent durchgesetzt.[2]
Anders als beim „Pflichtjahr“, das von 1938 an obligatorisch war und von dem schulentlassenen „Pflichtjahrmädel“ in einem größeren, kinderreichen oder bäuerlichen Haushalt geleistet wurde, fand beim RAD eine Unterbringung in (Baracken-)Lagern statt. Zum Arbeitseinsatz wurden die „Maiden“ in Trupps abkommandiert. Die körperlich meist anstrengenden Einsätze fanden beispielsweise in der Landwirtschaft oder im Landschaftsbau statt. Den Rahmen des Arbeitstages bildeten Fahnenappell, weltanschauliche Schulung, Gemeinschaftsaufgaben, Singen und Sport.
Gegen Kriegsende schloss sich für viele junge Frauen der so genannte Kriegshilfsdienst an, etwa in Rüstungsbetrieben oder Krankenhäusern, oder aber ein Kriegseinsatz als Wehrmachtshelferin, vor allem am FLAK-Scheinwerfer oder als Funkerin („Blitzmädel“).[3]
„Arbeitsmänner“ sah man bereits seit etwa 1936 in Halle.[4] Ihre Trupps waren im Lager „Ravensberg“ in Hesseln stationiert. Zu ihren Aufgaben gehörten unter anderem die Aufforstung der bis dahin „Kahlen Egge“ mit jungen Fichten sowie die Trockenlegung der Masch durch ein Grabensystem.
Wann das Frauen-RAD-Lager auf dem Schützenberg errichtet wurde und zu welchen Arbeitseinsätzen die Frauen eingeteilt wurden, wird derzeit recherchiert.
Die ersten amerikanischen Panzer waren am Ostermontag, den 2. April 1945, nach Halle eingerollt. Der Krieg war verloren, das nationalsozialistische Regime zusammengebrochen, auch wenn Hitler noch im Berliner Führerbunker ausharrte. Wann genau das Lager Schützenberg verlassen wurde und wer den Mut aufbrachte, Tore und Fensterläden zur Plünderung aufzubrechen, ist nicht bekannt. Aber dass es dort große Bestände lange entbehrter Dinge zu holen gab, sprach sich in Windeseile in Halle und Umgebung herum. Nach Augenzeugenberichten sollen am Tag der Plünderung Menschenmassen auf dem Schützenberg zusammengekommen sein.[5]
Manche hatten Karren oder sogar Pferdewagen dabei, um mitzunehmen, was sich irgendwie brauchen oder tauschen ließ. Es herrschte ein fieberhaftes Chaos. Schwere Frauenmäntel des RADw wurden erbeutet, Decken, Kantinenge-schirr…
Schließlich brach jemand die Schützenhalle auf, und die verblüffte Bevölkerung stand nicht nur vor einem Berg von Tabakballen, sondern auch vor zwei Automobilen des Bielefelder Zigarrenfabrikanten Crüwell, die unter der kostbaren Ware versteckt worden waren.
Der damals 13jährige Fritz Weßling hatte gemeinsam mit dem ehemaligen russischen Kriegsgefangenen Niko den Pferdeanhänger vollgepackt und sich auf den Heimweg nach Eggeberg gemacht, als sie von einer zweiten Welle amerikanischer Panzer hörten, die auf Halle zurollten. Die Amerikaner hatten die Plünderung nicht unterbunden, dennoch wollten die beiden den nachrückenden Truppen nicht mit ihrer Beute in die Hände fallen. Kurzerhand stellten sie den Anhänger auf halbem Weg in der Scheune eines Freundes unter und holten ihn erst am nächsten Tag ab.
Teile des weiß-roten Kantinengeschirrs finden sich noch heute in vielen Haller Haushalten. Sie sind erkennbar an ihrer RAD-Bodenmarke (Zahnrad, Hakenkreuz, Schriftzug „Modell des Amtes Schönheit der Arbeit“).
Quellen
[1] Vgl. Wendt, Bernd Jürgen: Deutschland 1933-1945 – Das „Dritte Reich“ – Handbuch zur Geschichte, Hannover 1995, S. 251.
[2] Hitler selbst hielt auch im Krieg am Zuchtgedanken der Rassenideologie fest und scheute sich daher vor der Zwangsverpflichtung von Frauen. Vgl. Wendt, S. 247 u. S. 257.
Die Arbeitsdienstverpflichtung wurde auf der unteren Parteiebene auch als Druckmittel gegen einzelne, nicht linientreue junge Frauen veranlasst.
[3] Deutsches Historisches Museum, Berlin: Ausstellungsn/Lebensstationen/Nationalsozialismus/ Reichsarbeitsdienst, URL: http://www.dhm.de/ausstellungen/lebensstationen/ns_8.htm am 3. März 2011.
[4] Die Arbeitsdienstpflicht für junge Männer bestand seit dem 26. Juni 1935. Sie war Teil der vormilitärischen Erziehung. Vgl. Zentner, Kurt: Illustrierte Geschichte des Dritten Reiches (Band 2), Köln/München, o.J., S. 334.
[5] Zeitzeugengespräch mit Erwin Ellerbrake und Fritz Weßling am 10. Februar 2011.