Das Dröhnen der Panzer kam aus Richtung Kölkebeck immer näher. In Bokel erwartete man den übermächtigen Feind. Es war Ostermontag, der 2.April 1945. Dann, gegen 11 Uhr, wälzten sich die Kettenfahrzeuge der „5th Armored Victory Division“ am Hof Sewiemöller nahe der Bokeler Dorfschule entlang. In diesem Moment näherte sich aus Richtung Brockhagen ein Lastwagen, darauf mehrere deutsche Soldaten und zwei junge Wehrmachtshelferinnen. Die Amerikaner eröffneten das Feuer…
Werfen Sie einen Blick in die Bokeler Schulchronik (PDF, 5 MB) oder lesen Sie…
Jedes Exponat hat eine eigene Seite.
Kehren Sie zurück zu
Ausstellung, Themenwand Der Krieg, ZeitRaum 3 Nationalsozialismus und finden Sie weitere interessante Ausstellungsstücke.
Stöbern Sie mit Hilfe des Zeitstrahls weiter durch die Sammlung oder entdecken Sie weiter unten Informationen, die einen Bezug zum gewählten Exponat haben.
Schulchronik verrät was geschah…
Die Chronik der Gemeinde Bokel, geschrieben vom jeweiligen Dorfschullehrer, galt lange Zeit als verschollen. Im Herbst 2020 gelangte sie auf Umwegen ins Stadtarchiv Halle (Westf.). Dadurch, und erst jetzt, wissen wir, was sich Ostern 1945 in Bokel zugetragen hat.[1]
Lesen Sie, was der Lehrer, dessen Namen wir noch nicht kennen, schreibt…
Vorgeschichte – Bokel kurz vor Kriegsende
„Das Jahr 1945 ist wohl das folgenschwerste der deutschen Geschichte. Auch die kleine Gemeinde Bokel stand ganz im Zeichen des verlorenen Krieges. Schon in den ersten drei Monaten des Jahres merkte man an allem, wie etwas Furchtbares über unser Volk hereinbrach. Stand man abends auf der Straße, dann sah man in der Ferne das Aufblitzen der Bomben, hörte das dumpfe Rollen der Front. Tausende von feindlichen Fliegern zogen im Dunkel der Nacht über uns hinweg und trugen ihre tödliche Last über unsere blühenden Städte und machten sie zu Stätten der Verwüstung und des Todes. Der nächtliche Himmel war oft taghell durch unzählige Leuchtschirme erleuchtet. Unheimlich erklangen die Warnsignale der Luftschutzsirenen. So ging es Tag und Nacht. Die Menschen kamen kaum noch aus den Kellern und Bunkern heraus.
Fuhrwerke, Radfahrer und Fußgänger waren auf den Straßen vor den Angriffen der Tiefflieger nicht sicher. Bald zeigten sich auf den Straßen die Vorboten der nahenden Front: buntbemalte Last- und Personenwagen, oft beschädigt. Motorradfahrer in Feldausrüstung sausten vorbei.[2]
In den Gemeinden waren überall Abteilungen der Waffen-SS einquartiert. Es war nicht recht klar, ob zum Einsatz gegen den Feind oder gegen die eigenen, unsicher werdenden Volksgenossen. – Der Volkssturm[3] gewann beim Anrücken des Feindes nicht an Schlagkraft. 80 Mann verfügten über 4 italienische Gewehre und etwa die gleiche Anzahl Panzerfäuste. Jeder sah das Unsinnige des Widerstandes gegen den übermächtigen Feind ein. Zwar wurden bei Hoppe in Tatenhausen und am Langen Brink Panzersperren errichtet,aber jeder sagte sich, daß Deutschland durch diese Maßnahmen nicht mehr zu retten war. Es wurde im Gegenteil nur vollkommen in den Abgrund getrieben. So rückte das Osterfest 1945 heran. Mit Bangen sah man den kommenden Tagen entgegen. Scharen von Flüchtlingen zogen ohne ein bestimmtes Ziel mit ihren Habseligkeiten nach Osten. Lange Kolonnen von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern schleppten sich mühselig weiter. Wie sollte das enden! Am Tage vor Ostern war große Aufregung in Bokel. Nachricht aus Gütersloh: Die Stadt wird geräumt und verteidigt.[4] Der Bokeler Volkssturm sollte ausgerüstet und schnellstens nach Gütersloh befördert werden. Aber es kam nicht mehr soweit. Der Bokeler Volkssturm blieb ruhig zu Hause.
Der erste Ostertag verlief ganz still. Bokel lag zwischen den Fronten. Es kamen die ersten Nachrichten vom Anrücken der Amerikaner aus Richtung Harsewinkel. An Widerstand dachte keiner mehr.“
Die Amis kommen!
„Man hatte in Bokel und auch in den Nachbargemeinden beschlossen, die weiße Fahne zu hissen, um unnötiges Blutvergießen zu vermeiden. Das Volk lebte in einer Art Fieberzustand dahin. Dem wurde am 2. Feiertage (2. April) ein Ende bereitet. Mittags gegen 11 Uhr rückten die Spitzenverbände der amerikanischen Panzertruppe ein und setzten ihren Vormarsch über Halle hinaus fort. Als der Schreiber dieser Zeilen um 11 Uhr vor die Haustür trat, da fuhren schwere Panzer mit aufgesessener Infanterie vorüber, gekennzeichnet durch den amerikanischen Stern. Eine ganze Armee rückte im Laufe des Tages von Harsewinkel über Kölkebeck heran. Die Bewohner hatten sich alle in die Wohnungen zurückgezogen und hatten die weiße Fahne ausgehängt. Nur die ausländischen Arbeiter (Polen, Russen, Serben), die es auf den umliegenden Höfen in den Kriegsjahren gut gehabt hatten, begrüßten an den Straßen in freudiger Stimmung ihre Befreier.“
Kriegsopfer in Bokel
„Zu größeren Kampfhandlungen kam es in Bokel und in anderen Teilen des Kreises Halle nicht. Aber ganz ohne Todesopfer ging es nicht ab. Als die ersten Panzer nach Hallle abgefahren waren, nahte auf der Straße von Brockhagen ein deutscher Lastkraftwagen, in dem sich außer dem Zivilfahrer einige Soldaten und zwei Wehrmachtshelferinnen befanden. Die amerikanischen Panzer eröffneten aus der Richtung von Sewiemöller[5] das Feuer, und im nächsten Augenblick stand der Wagen in Flammen. Der Fahrer und die Soldaten konnten verwundet entkommen, während die beiden Helferinnen verbrannten. Die verkohlten Leichen wurden 14 Tage später auf dem Friedhof in Halle beigesetzt.“
Vermißt!
„Kein Mensch konnte Auskunft geben über Namen und Heimat der jungen Mädchen, die auf so tragische Weise ums Leben kamen. Vermißt! Was liegt in diesem kleinen Vorgang, der sich innerhalb von 2 Minuten abspielte, schon an Leid und Not umschlossen, die ganze Härte und Grausamkeit des Krieges…“
Wehrmachtshelferinnen – wer waren sie?
Etwa zwei Millionen junge, ledige deutsche Frauen waren zwischen 1939-1945 im Kriegseinsatz. Davon rund 400.000 als Rot-Kreuz-Schwestern und weitere 500.000 als sogenannte Wehrmachtshelferinnen. Diese jungen Frauen übernahmen innerhalb der Wehrmacht alle Aufgaben, die nicht unmittelbar als Dienst an der Waffe anzusehen waren, so etwa im Bereich der Verwaltung, der Feldpost oder des Nachrichtenwesens (Funkverkehr > „Blitzmädel“). Der Einsatz der Frauen war kriegswichtig, um junge Männer für den Einsatz an der Front „freizumachen“.
Zu Kriegsbeginn meldete sich etwa die Hälfte der Wehrmachtshelferinnen freiwillig.[6] Ihre Motive waren vielfältig: der Wunsch, sich wie die männlichen Altersgenossen für „Volk und Vaterland“ engagieren zu können, am unmittelbaren Kriegsgeschehen teilzuhaben (gerade nach den schnellen deutschen Erfolgen in Polen und Frankreich), der Wunsch nach Kameradschaft und nach Unabhängigkeit vom Elternhaus mit seinem oft traditionellen weiblichen Rollenmuster. Ihre Unterbringung erfolgte mit Rücksicht auf die guten Sitten meist außerhalb der Kasernen. Die Uniform der Wehrmachtshelferinnen bestand aus Bluse, Uniformjacke und Rock, als Kopfbedeckung wurde ein Schiffchen getragen.
Während des Kriegsverlaufs wurden die Wehrmachtshelferinnen immer mehr in der Nähe der Kampfhandlungen eingesetzt. So gab es bei der Luftwaffe allein 160.000 Flak-Helferinnen, die beim Einsatz der Flug-Abwehr-Geschütze assistierten, indem sie beispielsweise nachts die großen Suchscheinwerfer führten. Der Kriegsdienst bedeutete nun zunehmend auch für die jungen Mädchen Gefahr und Tod.
Die Unterkünfte der Wehrmachtshelferinnen wurden provisorischer: Sie waren oft kaum beheizt, das Essen war karg und die hygienischen Verhältnisse katastrophal.[7] Harte Arbeit wurde von den Frauen verlang, wie etwa das Ausheben von Splittergräben, auch im Winter.[8]
In der Folge gab es immer weniger Freiwilligmeldungen. Ein Wehrgesetz von 1935 erlaubte jedoch die zwangsweise Einberufung von Männern und ebenso von Frauen im Kriegsfall. Zunächst dauerte ihr Einsatz regulär ein Jahr, ab 1944 war er unbefristet.
Bei Kriegsende machten sich zahllose Wehrmachtshelferinnen auf eigene Faust auf den Weg nach Hause. Weite Strecken legten sie zu Fuß zurück. Manchmal gab es Fahrgelegenheiten.[9]
Ob die beiden „unbekannten Wehrmachtshelferinnen“, die am 2. April 1945 in Bokel den Tod fanden, auch auf dem Heimweg zu ihren Eltern waren, wird nie geklärt werden.
Dr. Katja Kosubek im April 2021
Zum Weiterlesen:
[1] Chronik der Gemeinde Bokel (Band II), Bestand Schulchroniken, Stadtarchiv Halle (Westf.).
[2] Menschen waren auf der Flucht vor den Alliierten. Militärfahrzeuge und -ausrüstung wurden entwendet.
[3] Volkssturm: Hilfstrupps aus Jungen und älteren Männern, die nicht für den Kriegsdienst in Frage kamen. Ihren oblag de Aufgabe, die Heimat direkt vor der Haustür zu verteidigen. So hatte der Bokeler Volkssturm beispielsweise am Gasthof Tatenhausen Panzersperren aus Holzpalisaden errichtet.
[4] Zivilpersonen wurden in Sicherheit gebracht.
[5] Sewiemöller: Der Hof liegt am heutigen Ernteweg. Der Weg von Kölkebeck nach Halle führte vor der Begradigung der Kölkebecker Straße am Hof Sewiemöller entlang durch den alten Bokeler Dorfkern.
[6] Vgl. Gisela Bock, Rezension zu Franka Maubach: Die Stellung halten: Kriegserfahrungen und Lebensgeschichten von Wehrmachthelferinnen, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2009, bei HSozKult, URL: https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-12699 [online am 31. März 2021]
[7] Zeitzeugengespräche, unter anderem mit Charlotte Wiegand (Bielefeld/Halle) im Dezember 2019. Da es an allem fehlte, wurden sogar Socken als Monatsbinden genutzt, auf Grund der Mangelernährung oder aber einer gezielten Medikamentengabe blieb die Periode bei vielen jungen Frauen im Arbeitsdienst oder Kriegshilfsdienst aus. Dies stand in Widerspruch zum Frauen- bzw. Mutterbild der NS-Ideologie.
[8] Zeitzeugengespräch mit Else Coesfeld (Versmold) im März 2019.
[9] Zeitzeugengespräch mit Käthe Pali (Westbarthausen) im Juni 2020.